„Ohne Gleichberechtigung der Frau, kein Kommunismus“
Einleitung
Revolutionärin, Frauenrechtlerin und die erste Frau in einem Ministeramt weltweit: das war Alexandra Kollontai. Im März 1872 wurde sie in St. Petersburg geboren und ist als Tochter einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Ihre Hauslehrerin machte sie früh auf soziale Unterschiede in ihrem mittelbaren Umfeld aufmerksam. Ihre vehementen Forderungen für die politische, rechtliche, ökonomische und sexuelle Befreiung der Frau prägen bis heute die Erinnerung an sie. Doch ihr politisches Wirken greift noch weiter. So war Kollontai 1917/18 als erste weibliche Ministerin in Lenins revolutionärem Kabinett aktiv. Ab 1922 war sie als erste weibliche Botschafterin und erste Frau, die eine derart hochrangige Position erklomm, als Diplomatin in Norwegen tätig.
Biografie und politisches Wirken
Alexandra Kollontai wurde am 31. März 1872 in eine privilegierte russische Familie geboren. Als Tochter einer wohlhabenden Familie genießt sie eine gute Ausbildung, wird von Privatlehrer*innen unterrichtet und lernt mehrere Sprachen, darunter Deutsch und Finnisch. Durch ihre Hauslehrerin wurde sie bereits in jungen Jahren auf soziale Unterschiede aufmerksam gemacht und für soziale Ungerechtigkeiten sensibilisiert. Früh entwickelte Alexandra einen eigenen Kopf. Den Wunsch ihrer Eltern, eine „gute Ehe“ einzugehen, also aus finanziellen Gründen zu heiraten, lehnt sie ab und heiratet 1893 aus Liebe ihren Cousin, den sozial niedrigerstehenden Ingenieurstudenten Wladimir Kollontai und bekommt mit ihm einen Sohn. Den Namen Kollontai wird sie ihr restliches Leben beibehalten. Doch die Liebe hielt nur ein paar Jahre: „Das ‚glückliche Dasein‘ einer Hausfrau und Gattin wurde mir zum ‚Käfig‘“, schilderte Alexandra Kollontai rückblickend.
Als politisches Schlüsselerlebnis gilt die Besichtigung einer Textilfabrik mit ihrem Ehemann. Dieser wurde beauftragt ein Belüftungssystem zu installieren, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und so Atemwegserkrankungen vorzubeugen. Alexandra ist vom Elend der Arbeiter*innen schockiert und beginnt sich vertiefend mit sozialistischen Theorien zu beschäftigen.
1898 lässt sie sich von ihrem Ehemann scheiden und beschließt in Zürich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Zu diesem Zeitpunkt dürfen Frauen noch nicht in Russland, jedoch in der Schweiz studieren. Hier beginnt sie politisch aktiv zu werden und schließt sich zunächst den Menschewiken an. Alexandra schreibt Texte und Flugblätter für die sozialistische Bewegung und setzt sich intensiv mit der Situation der Frau auseinander. 1899 kehrt sie nach Russland zurück und stürzt sich in politische Praxis. Gleichzeitig ist sie publizistisch aktiv. Schwerpunkt ihrer frühen wissenschaftlichen und publizistischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft waren die sozialökonomische Entwicklung, die soziale Lage der Arbeiter sowie die Entwicklungsbedingungen der sozialistischen Arbeiterbewegung in Finnland.
Während der ersten russischen Revolution 1905 beteiligte sie sich aktiv an Demonstrationen und trat vor allem als Rednerin und Agitatorin in Erscheinung. Insbesondere setzt sie sich für die Organisierung und Unterstützung von Arbeiterinnen ein. In diesen Tagen lernte sie außerdem Lenin und dessen Frau, Nadeshda K. Krupskaja kennen.
Mit der Zeit verknüpfte Sie die Frage nach sozialer Gerechtigkeit immer mehr mit der Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit. In ihrer praktisch-politischen Arbeit rückten zunehmend Probleme der werktätigen Frauen, ihrer politischen Gleichberechtigung, die Unzulänglichkeiten der bürgerlichen Frauenbewegung, aber auch die Defizite der Frauenproblematik in der Politik der russischen Sozialdemokratie in den Blickpunkt. Zu der Zeit nach 1905 schrieb sie: „Zu jener Zeit fiel mir zum ersten Mal auf, wie wenig sich unsere Partei mit dem Schicksal der Frauen der Arbeitsklasse beschäftigte und wie gering ihr Interesse an der Befreiung der Frau war.“
1907 nimmt sie als russische Delegierte für die „erste internationale Konferenz sozialistischer Frauen“ unter der Leitung von Clara Zetkin teil und unterstützt diese mit ihren Beiträgen über das allgemeine Wahlrecht.
Für den ersten gesamtrussischen Frauenkongress 1908 bereitete sie die Teilnahme und das erstmalige Auftreten einer Gruppe sozialdemokratischer Arbeiterinnen vor. In diesem Zuge erarbeitete sie ihr Buch über die „Frauenfrage“, welches Anfang 1909 noch in Russland erschien. Durch ihr politisches Engagement droht ihr Verfolgung und Haft, weshalb sie sich ab 1908 ins politische Exil nach Deutschland absetzte. Dadurch konnte sie selbst nicht mehr am Kongress teilnehmen, ihre Positionen wurden dennoch von den sozialdemokratischen Arbeiterinnen vorgetragen.
In Deutschland pflegt sie enge politische Freund*innenschaften unter anderem mit Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. In den nahezu zehn Exiljahren wirkte sie weiterhin, vor allem publizistisch und als Agitatorin. Zudem war sie seit dem Beginn ihres Exils 1908 Mitglied der deutschen sozialdemokratischen Partei, publizierte in verschiedenen sozialpolitischen Journalen und beteiligte sich an Wahlkämpfen für die SPD. 1911 verlegte sie ihren Wohnsitz von Deutschland nach Frankreich, wurde dort ebenfalls Mitglied der sozialistischen Partei und organisierte unteranderem in Südfrankreich einen Streik von Wäscherinnen.
Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland wurde sie mit Kriegsbeginn 1914 nach Dänemark transferiert. Aus diesem Grund erschien die 1914 fertiggestellte Fortsetzung zu der „Frauenfrage“, ihr Werk über „Gesellschaft und Mutterschaft“ erst 1916. Das Werk beinhaltet unter anderem umfassende Begründungen für die Notwendigkeit eines staatlichen Mutterschutzes, sowie eine international vergleichende sozialpolitische Analyse des staatlichen Mutterschutzes in 15 Staaten.
Von ihren wechselnden Wohnsitzen in den skandinavischen Ländern führte sie ihren publizistischen sowie politisch-organisatorischen Kampf gegen die Auswirkungen des I. Weltkriegs. Zwischen 1915 und 1917 reiste sie auf Bitten Lenins zu zwei mehrwöchigen Vortrags- und Agitationsreisen in die USA und nach Kanada. Während ihrer Vortragsreise 1917 fand die russische Februarrevolution statt. Kollontai kehrte unmittelbar über Finnland nach St. Petersburg zurück, wirkte aktiv als Agitatorin, Organisatorin sowie Publizistin und wurde in mehrere Sowjets, Parteikomitees und Frauenkommissionen gewählt. Unter der provisorischen Regierung von Kerenski wurde sie zeitweise verhaftet.
Bereits am 7.Novemeber 1917, nach der Oktoberrevolution, wurde sie von Lenin mit der künftigen Leitung des Ministeriums für soziale Fürsorge beauftragt. Als Mitglied des Koalitionskabinetts Lenins nach der Oktoberrevolution trug sie politische Mitverantwortung für die unverzügliche nationale Unabhängigkeit Finnlands von Russland. Bereits 1918 trat sie aus Protest gegen den Brest-Litowsk-Friedensbeschluss mit Deutschland aus dem Kabinett zurück. Im selben Jahr heiratete sie auf der Krim Pavel Dybenko, der von 1917 bis 1918 als Volkskommissar für Militär- und Marineangelegenheiten tätig war.
1920 wurde sie zur Leiterin der Frauenabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Russlands [KPR (B)] (RKP(b)) und stellvertretende Leiterin des Frauen-Sekretariats der Komintern. In ihrer Zeit als erste weibliche Ministerin des ersten Koalitionskabinetts Lenins und als Leiterin der Frauenabteilung des ZK der KPR (B) verzeichnete Alexandra Kollontai große Erfolge: Sie führte die zivile Eheschließung, das Scheidungsrecht sowie den staatlichen Mutterschutz ein und legalisierte Schwangerschaftsabbrüche. Zudem erwirkte sie eine Arbeitspflicht für Frauen, da die ökonomische Unabhängigkeit in ihren Augen ein unerlässlicher Bestandteil der Frauenbefreiung darstellte. Die meisten ihrer Errungenschaften wurden 1936 mit der neuen sowjetischen Verfassung rückgängig gemacht.
In den Jahren 1921/ 1922 wirkt sie als Repräsentantin der „Arbeiteropposition“ auf dem X. Parteitag der KPR(B), dem III. Komintern-Kongress 1921 und dem XI. Parteitag der KPR (B).
Das von ihr formulierte und auf dem X. Parteitag eigereichte „Manifest der Arbeiteropposition“ war eine Zusammenfassung der zunehmenden Kritik, aus vor allem gewerkschaftlichen Parteikreisen, gegen die zunehmende Parteibürokratie sowie gegen die Zurückdrängung der Gewerkschafts- und Produktionskomitees. Weiterhin wurde die Leitung der Wirtschaft durch die Gewerkschaften und Arbeiterselbstverwaltungen gefordert. Kurzum übten Kollontai und ihre Genoss*innen Kritik an der zunehmenden Zentralisierung der UdSSR. Als Folge verlor sie ihre politischen sowie öffentlichen Funktionen und wurde fast aus der Partei ausgeschlossen.
Von 1922 bis 1945 war A. Kollontai als Diplomatin tätig und somit als erste Frau offizielle Botschafterin in der Geschichte.
Anzumerken ist, dass sie ab 1922 auf öffentliche Meinungsäußerungen und Kritik zu den Entwicklungen des Sozialismus in der Sowjetunion verzichtete, soweit es nicht der Generallinie des seit 1922 von J.W. Stalin geführten Zentralkomitees entsprach. Auch z den Säuberungen und dem sogenannten „Großen Terror“ seit 1937 schweig sie. Sogar als ihr ehemaliger Ehemann Pawel Dybenko als Trotzkist verhaftet und erschossen wurde. Private Tagebucheinträge lassen teilweise auf eine kritische Haltung schließen, letztlich kann nicht vollständig geklärt werden, ob sie aus Selbstschutz oder Zustimmung schwieg.
In ihrer Zeit als Diplomatin war sie unteranderem als sowjetische Botschafterin in Schweden 1939/40 und 1944 an der Beendigung der sowjetisch-finnischen Kriege beteiligt. Dafür wurde sie 1946 und 1947 von der finnischen Regierung, mit Unterstützung der sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien Schwedens und Norwegens, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.
Zum Ende des Zweiten Weltkriegs legte Alexandra Kollontai ihre Ämter nieder. Sie lebte bis zu ihrem Tod am 09.März 1952 in Moskau. 1966 benannte die Astronomin Ljudmila Tschernych einen Asteroiden nach Alexandra Kollontai.
Werke und Positionen
Die politischen Positionen und Haltungen von Kollontai basieren auf einem tiefverwurzeltem menschlichen Gerechtigkeitsempfinden, gemeinschaftliche Solidarität und einem demokratischen Miteinander. Auf dieser Grundlage fußt ihr Verständnis von Sozialismus und die unmittelbare sozialistische Aufklärungs- und Organisationsarbeit vor Ort zeichnet ihr politische Tätigkeit bis zum Beginn ihrer Funktion als Diplomatin 1922 aus.
Feministische Fragen gehörten zu den grundlegenden Aspekten ihres praktischen und theoretischen Wirkens. So forderte sie über dem traditionellen marxistischen Verständnis zur Einbeziehung der Frau in den gesellschaftlichen Produktionsprozess hinaus, die politische Gleichstellung der Frau, sowie die vollwertige Einbeziehung in das gesellschaftspolitische Leben.
Zu ihren bedeutendsten Werken gehört das 1909 erschienenes Buch über die Frauenfrage In diesem analysiert sie den Kampf für die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen, die Ehe und Familienproblematik, den Schwangeren und Neugeborenen-Schutz und den Kampf der Frauen um ihre politischen Rechte.
Die Fortsetzung ist das 1916 erschienene Werk über „Gesellschaft und Mutterschutz“ Im ersten Teil des Werkes werden die Notwendigkeit eines staatlichen Mutterschutzes begründet, der Einfluss der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse auf die Kindersterblichkeit dargestellt, der gesetzliche Schutz der Mutterschaft sowie verschiedene Typen und Formen des Mutterschutzes analysiert. Im zweiten Teil findet eine vergleichende internationale Analyse über den staatlichen Mutterschutz in 15 Staaten (Deutschland, England, Frankreich, Italien, Schweiz, Österreich, Ungarn, Luxemburg, Norwegen, Bosnien-Herzogowina, Serbien, Rumänien, Australien, Finnland und Russland) statt.
1918 entwickelte sie in „Die neue Moral und die Arbeiterklasse“ ergänzend zu dem traditionell marxistischen Ansatz, über die Einbeziehung der Frauen in den gesellschaftlichen Produktionsprozess, ihre Forderung nach juristischer und politischer Gleichstellung sowie ihre Einbeziehung auch in das gesellschaftspolitische Leben. Sie formuliert Problemstellungen und Entwürfe für eine neue sozialistische Gesellschaft. In dieser soll den Frauen ein tatsächlich befreites Leben e Gleichstellung und eigne Persönlichkeitsentwicklung ermöglicht werden. Das Alltagsleben der Frauen solle so gestaltet werden, dass sich die Frauen tatsächlich aus den patriarchalischen Strukturen des Berufslebens, der Partnerschaft, der Familienbeziehungen und auch des politischen Lebens emanzipieren können.
Weitere bedeutende Aspekte ihrer theoretischen Arbeiten, welche sie später als Ministerin teilweise umsetzen konnte, waren die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, die Lockerung des Eherechts und das Recht auf Scheidung.
Gesellschaft, Liebe und Sexualität
Kollontai schreibt sowohl theoretisch als auch in Kurzgeschichten über Liebe und geht selbstbewusst mit ihrer Sexualität um. So ist der Titel ihrer 1926 erschienenen Autobiografie: ist „Autobiografie einer sexuell emanzipierten Kommunistin“. In ihren Schriften analysiert Kollontai nach materialistischen Grundsätzen die veränderlichen Formen von Gesellschaft, Liebe und Sexualität. Jede geschichtliche Epoche in der gesellschaftlichen Entwicklung verfüge über bestimmte Moralvorstellungen, die dazu beitragen, die gegenwärtigen Produktionsverhältnissen zu stützen.
Im Kapitalismus stellen die bürgerliche Ehe und Kleinfamilie die kleinste gesellschaftliche Versorgungseinheit und damit das Fundament der kapitalistischen Produktionsweise dar. Diese beruht einerseits auf unbezahlter, durch Frauen ausgeführte, Reproduktions- und Sorgearbeit und andererseits auf ihrer ökonomischen Abhängigkeit. Eine strikte bürgerliche Sexualmoral erhält diesen Zustand der Ausbeutung von Frauen sowie bürgerlichen Eigentumsverhältnissen und dessen (oft patriarchal geprägte) Vererbung aufrecht.
Wesentlicher Aspekt Kollontais Theorien über Liebe, Sexualität und Familienplanung ist das Ziel zwischenmenschliche Beziehungen von materiellen Zwängen zu befreien:
In Kollontais Augen müsse anstelle der bürgerlichen Kleinfamilie das Kollektiv treten. So setzte sie sich beispielsweise für eine umfassende staatliche Kinder-, Alten- und Krankenversorgung ein und stellte verschiedene Aspekte der Elternschaft in Frage.
So führen bürgerliche Eigentumsverhältnisse zu Beziehungen, die auf Ausbeutung und ökonomischer Abhängigkeiten beruhen. Dagegen schaffen sozialistische, nicht auf Gewinn und Ausbeutung anderer ausgerichteter Produktionsverhältnisse, die Möglichkeit von zwanglosen, unabhängigen und auf Gefühlen basierende Beziehungen.
Weiterhin schaffen sozialistische, nicht auf Gewinn und Ausbeutung anderer basierende Produktionsverhältnisse die Möglichkeit von Beziehungen, die nicht auf Ausbeutung und ökonomischer Abhängigkeit beruhen. Dieser Logik folgend, verliert die rigide Sexualmoral beruhend auf der Keuschheit der Frau ihre Funktion: Wenn es kein privates Eigentum gibt, kann diese auch nicht vererbt werden! Wenn der Zweck einer Paarbeziehung nicht der Erhalt eines ökonomischen Status ist, kann an diese Stelle Liebe, Zuneigung und Lust treten. Daraus folgt, eine Beziehung kann und darf enden, wenn sie keine positiven Gefühle in den beteiligten Partner*innen mehr auslöst. Niemand ist durch ökonomische oder moralische Vorgaben gezwungen in einem unglücklichen Partner*innenschaft zu leben.
Kollontai entwirft in ihrem Werk Grundlagen einer sozialistischen Sexualmoral. Die ökonomische Gleichstellung zwischen Männern und Frauen, sowie der gemeinsame Kampf für die Revolution verändere die gesellschaftliche Vorstellung der Rolle der Frau. Sie wird nicht mehr in der patriarchalen Familie unterdrückt oder für gelebte Sexualität geächtet, sondern kann unabhängig ihre Persönlichkeit entfalten. Auch wenn Bedürfnisse, wie körperliche Nähe und Zuneigung von Kollontai teilweise von ihr mit Grundbedürfnissen wie Essen und Trinken verglichen wird, findet sich in ihren Texten nicht nur sozialistischer Pragmatismus, sondern auch eine gewisse Feingeistigkeit und Sensibilität. In „Ein Weg dem geflügelten Eros“ widmet sie sich verschiedensten Beziehungsformen, räumt sexuellen Beziehungen ohne romantische Gefühle ihre Daseinsberechtigung ein, betont aber auch die Bedeutung von Liebe als mögliche Grundlage einer Beziehung ein.
Die romantische Paarbeziehung verliert an Bedeutung und moralisches Handeln (auch im Sinne einer Sexualmoral) misst sich an den Auswirkungen des Handelns für die Gemeinschaft. So plädiert sie beispielsweise für die Achtung von hygienischen Vorkehrungen – in einer Zeit ohne freien Zugang zu einer Vielzahl an Medikamenten oder Verhütungsmitteln – eine hohe Priorität. Auch spricht sie sich gegen den Rückzug in die Zweisamkeit aus, vielmehr können und oder sollen die Liebenden zwar Kraft und revolutionäre Energie aus ihrer Beziehung schöpfen, in einer sozialistischen Gesellschaft soll jedoch die allgemeine Verbundenheit und Genossenschaftlichkeit an erster Stelle kommen.
Ihr Konzept der proletarischen Moral und genossenschaftlichen Liebe basiert auf gleichberechtigter Partner*innenschaft beruhend auf Solidarität. Im Fokus stehe nicht die romantische Zweierbeziehung als gesellschaftliche Grundlage, sondern kollektive Verbundenheit. Je stärker die Bindung zwischen den Mitgliedern des Kollektivs als Ganzes sei, desto weniger bedeutend sind eheliche Beziehungen und die staatliche sowie gesellschaftliche Motivation diese zu schützen und zu erhalten. Die drei Grundprinzipien der proletarischen Moral umfassen also die Gleichheit in den Beziehungen, die beiderseitige Anerkennung der Rechte des anderen und die genossenschaftliche Sensibilität.
Kritik an Kollontai
Trotz der, insbesondere im zeitlichen Kotext betrachteten progressiven Einstellung Kollontais, sind aus der heutigen Perspektive nicht alle ihre Forderungen und Positionen unkritisch zu betrachten. So galt sie ab 1923 öffentlich als Unterstützerin Stalins ohne offenkundig Kritik zu äußern. Auch zu den stalinistischen Säuberungen schwieg sie, sogar als ihr ehemaliger Ehemann P. Dybenko als Trotzkist verhaftet und erschossen wurde. Private Tagebucheinträge lassen teilweise auf eine kritische Haltung schließen, sodass nicht zweifelsfrei belegt werden kann, ob sie aus Selbstschutz oder Zustimmung schwieg.
Bezüglich ihrer feministischen Politik ist hinzuzufügen, dass für sie zwar einerseits die Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen forderte, jedoch gleichzeitig das Gebären von Kindern auch als Pflicht von Frauen betrachtete. Zudem sprach sie sich dafür aus, dass es Menschen mit Erbkrankheiten verboten sein sollte sich fortzupflanzen.
Kollontais Blick ist in ihren Theorien natürlich heteronormativ geprägt, Prinzipien der genossenschaftlichen Liebe lassen sich jedoch ebenfalls auf queere Beziehungen ausweiten.
Schlussworte
Bei einer Betrachtung ihres Lebens, ihres Werdegangs und ihrer Werke wird deutlich, warum sie über sich selbst sagte: „Ich habe nicht ein, sondern viele Leben gelebt“.
Doch wie Kollontai selbst 1938 in einem Brief an eine Freundin schrieb: „Der Eindruck, den man von einem Menschen hat, wird immer unvollkommen sein und ihn nicht wirklich widerspiegeln. Das ist besonders dann der Fall, wenn Jahre ins Land gegangen sind, wenn sich Legenden um ihn gebildet haben und Geschichten über ihn erzählt werden. Alle Seiten seines Charakters werden – in Abhängigkeit von den Umständen – entweder überhöht oder untertrieben. Ich habe viel darüber nachgedacht. Ich hatte immer den Wunsch, als die zu gelten, die ich tatsächlich bin, und geschätzt zu werden für das, was ich wirklich geleistet habe. Das ist natürlich schwer, weil jeder Mensch den anderen aus seinem subjektiven Empfinden begreift.« (Volk, 2022)
Demnach ist es insbesondere aus heutiger Perspektive und hundert Jahre später kaum möglich alle Facetten Kollontais zu begreifen und abzubilden. Dennoch können wir sie für ihre geführten feministischen Kämpfe sowie ihre Werke schätzen. Wir können sie dafür schätzen, was sie uns hinterlassen hat und uns daran erinnern, dass ein viele ihrer Ziele, Forderungen und Hoffnungen auch noch heute Bestand haben. Gleichzeitig kann uns die Erinnerung an Alexandra Kollontai dafür Hoffnung geben, wieviel gemeinsam erreicht werden kann.
Weiterführende Literatur:
- Kollontaj. (1909): Socialnyja Osnowy Schenskogo Woprosa [Soziale Grundlagen der Frauenfrage]. St. Petersburg.
- Kollontaj. (1916): Obschtschestwo i Materinstwo. Tom 1: Gosudarstwennoe Strachowanie Materinstwa [Gesellschaft und Mutterschaft. Bd. 1: Die Staatliche Mutterschutz-Versicherung]. St. Petersburg.
- Kollontai. (1926): Autobiografie einer sexuell emanzipierten Kommunistin. Berlin-West 1977.
Volk. K. (2022): Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben. Karl Dietz Verlag Berlin.
Podcastempfehlung:
A.K. 47 – Selections from the Works of Alexandra Kollontai, Kristen Ghosee
Quellen:
- Steiner. (2004): Alexandra M. Kollontai (1872–1952) über Theorie und Praxis des Sozialismus. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags vor der Klasse für Sozial- und Geisteswissenschaften der Leibniz-Sozietät am 21. Dezember 2000. Leibniz-Sozietät/Sitzungsberichte 63, 83–122
o.A. (2008): Aleksandra Kollontai und die Rote Liebe. Talktogether Nr. 23/2008. [https://www.talktogether.at/l/kopie-von-aleksandra-kollontai-und-die-rote-liebe/, abgerufen am 28.01.2024]
o.A. (o.D.). ALEXANDRA KOLLONTAI. Gleichstellung im Blick. ADIUVA Verlag, ein Unternehmensbereich der VNR Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG [https://www.gleichstellung-im-blick.de/personlichkeit-des-monats/alexandra-kollontai/, abgerufen am 29.01.2024]
Volk. K. (2022): Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben. Karl Dietz Verlag Berlin.